HEXENPOST
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Tag 7

Kennst du die Geschichte von der Freundschaft zwischen den Wassertropfen und der kleinen Lina?

Hier ist sie

Bild von Oleksandra Bardash aus Unsplash

Lina und der Wassertropfen

Es war einmal ein kleines Mädchen namens Lina, das liebte es, an einem klaren Frühlingsmorgen barfuß am Bach zu spielen. Zwischen Moos, Steinen und leise plätscherndem Wasser tanzte die Sonne in winzigen Spiegeln auf der Oberfläche. Beim Klettern über einen glitschigen Stein entdeckte sie etwas ganz Besonderes: Ein einzelner, schimmernder Wassertropfen lag auf einem Blatt und funkelte wie ein Edelstein im Licht.
Neugierig beugte Lina sich herab und bestaunte den Tropfen. „Du bist aber schön“, flüsterte sie vorsichtig.
Der Tropfen zitterte leise auf dem Blatt und erwiderte, so sanft, dass es fast nur das Herz hören konnte: „Danke, kleine Lina. Ich freue mich, dass du mich siehst.“
Lina staunte: „Kannst du wirklich sprechen?“
Der Tropfen glitzerte schelmisch. „Im Frühling, wenn die Sonne die Welt weckt und Kinderherzen offen sind, dann kann vieles sprechen. Vielleicht sogar ein Wassertropfen.“
Lina kicherte, setzte sich ins Gras und fragte: „Woher kommst du?“
„Aus einer weiten Welt“, antwortete der Tropfen. „Manchmal bin ich Regen, manchmal Meer, manchmal Schnee. Ich reise, solange die Zeit sich dreht.“
„Reisen ist bestimmt schön“, sagte Lina nachdenklich. „Aber bist du manchmal auch allein?“
Der Tropfen glitt sacht näher an ihren Finger. „Allein fühle ich mich selten, denn ich weiß, irgendwo wartet immer ein Kind, das staunt – so wie du. Und ich bin nie lange derselbe, immer auf dem Weg ins Neue.“
Einen Moment schien der Tropfen noch heller zu leuchten. „Und weißt du, Lina: Kein Wassertropfen geht je ganz allein durch die Welt. Auch wenn wir uns manchmal verlieren, sind wir immer Teil eines Ganzen. In jedem Regenbogen, im Rauschen des Bachs und im Tanzen des Meeres sind wir viele – wir reisen, wir träumen und wir helfen einander, überall.“
Lina schaute zum glitzernden Bach hinüber, wo zahllose kleine Tropfen tanzten und einander folgten. Da spürte sie plötzlich: Aus jedem einzelnen Tropfen entsteht etwas Großes, und zusammen ist Wasser nie allein.
Lina lächelte. „Darf ich dich behalten?“
Der Tropfen flackerte warm: „Du kannst mich nicht festhalten wie einen Stein oder eine Blume, aber glaube mir: Wir begegnen uns wieder – in Träumen, im Regen, vielleicht sogar im Schnee.“
Da rief in der Ferne Linas Mutter. Schweren Herzens verabschiedete das Mädchen sich von seinem neuen Freund. Der kleine Wassertropfen aber blinzelte ihr nach, hing noch ein Weilchen am Blatt und begab sich dann auf eine wundersame Reise durch den großen Kreislauf des Wassers.

Bild von ANIRUDH aus Unsplash

Zuerst ließ sich der Tropfen vom Bach mitnehmen, tanzte durch Stromschnellen, glitt unter Wurzeln hindurch und wurde im Fluss schließlich von der Strömung fortgetragen. Er bestaunte Kiesel, begegnete Fischen, und spürte das Erzittern, wenn ein Reiher seine Spiegelung durchbrach. Weiter und weiter reiste er, bis der Fluss ins große, weite Meer mündete.
Dort, in der schier endlosen Weite des Meeres, erlebte der Tropfen Abenteuer mit Wellen, Tiden und Stürmen, ließ sich von Delfinen überspielen und sonnte sich in salziger Gischt. Durch die Kraft der Sonne wurde er leicht und leichter – bis er als feiner Wasserdampf aufstieg, von Winden getragen wurde und empor in den Himmel segelte.
Als Teil einer Wolke flog er übers Land, sah Wälder und Städte, Berge und Felder. Es donnerte und stürmte – und schließlich regnete er als sanfter Tropfen auf eine duftende Wiese, versickerte in die Erde, reiste als Teil des Grundwassers unter geheimnisvollen Steinen hindurch. Manchmal ruhte er lange in dunkler Tiefe, manchmal wurde er von Baumwurzeln aufgenommen, wanderte durch Äste und Blätter, bis er als Tautropfen bei Sonnenaufgang erneut schimmerte.
Er war gleichzeitig Träne im Auge, Nebelfetzen über einem See, Eiskristall an einem Ast, Pfütze im Straßengraben, Tröpfchen im Morgentau, und für einen Moment sogar Dampf im heißen Tee eines Menschen.
Jahre vergingen. Lina wurde groß, dann älter, ihr Haar ergraute, ihre Schritte wurden langsam. Doch in ihrem Herzen blieb immer eine leise Sehnsucht nach dem Wunder jenes Morgens am Bach, nach jenem tropfenhellen Zauber, den sie nie vergessen konnte. Als sie alt war und das Kaminfeuer an langen Winternächten so ruhig glomm wie nie, saß sie oft am Fenster und lauschte dem leisen Rieseln des Schnees.
Eines Nachts, als Frostblumen das Glas verzauberten und die Welt im Schweigen lag, landete eine einzelne Schneeflocke auf Linas warmer Hand. Sie blinzelte verwundert – und erkannte im Innersten den alten Freund wieder. Der Wassertropfen, nun in Gestalt einer Schneeflocke, begann leise zu erzählen: von fernen Ozeanen, wilden Stürmen, sternklarer Luft, vom Leben als Tauperle auf einer Rosenknospe, als Teil einer Träne,  im Tau, als Nebel, als Tropfen im Fluss und wieder als Schnee auf dem Fensterbrett.
Lina hörte still zu, während die Flocke langsam schmolz und sich ihr sanftes Licht in ihrer Hand ausbreitete. Ein tiefer Frieden erfüllte sie, Müdigkeit und Freude mischten sich zu einem zarten Glück. Sie schloss leise die Augen und schlief ein – und während sie lächelte, träumte sie von der großen Reise ihres kleinen Wassertropfens. So glitt Lina behütet und getröstet in eine neue Dimension hinüber, und draußen begannen die Eiszapfen im ersten Licht leise ihr Requiem zu singen.

Bild von Aaron Burden aus Unsplash
 
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